Die Mauer

29. Juni 2025

Es war Frühling und die Sonne wärmte die Gebäude aus rotem Ziegelstein. Man hörte nur, wie die Vögel in den Bäumen zwitscherten. Die Luft war trocken und es roch nach altem Blut. Da stand David, mit seinen dunklen Haaren und braunen, kleinen Augen. Er stand einfach dort und blickte ins Leere. Der sanfte Wind blies ihm feinen Kiesstaub ins Gesicht, jedoch bewegte er sich nicht, wie eine Statue. Er stand vor der Mauer, an der noch dunkle Stellen zu sehen waren. Er dachte an all die schönen Momente – bis sie ihm durch die Kugeln an dieser Mauer genommen wurden.

„Du kommst oft hierher“, sagte eine Stimme.

David drehte sich langsam um und sah eine Frau. Sie war ein paar Schritte von ihm entfernt. Ihre Augen schauten gefühllos in seine Richtung, und sie näherte sich ihm in langsamen und leichten Schritten.

„War es dein Vater.“, fragte sie.

Er zögerte für einen Moment, doch dann nickte er langsam. Danach war wieder Stille.

Dann sagte er leise: „Er meinte, es wäre schon gut, doch das ist es gar nicht.“

David schaute sich die Frau genauer an, ihre blonden Haare waren nach hinten gebunden und sie war elegant in einem Pelzmantel gekleidet. Ihre hellblauen Augen richteten sich intensiv auf den Jungen.

„Und … was hast du jetzt vor? ", fragte sie den Jungen.

„Ich … will Pilot werden“, sagte er nach kurzem Zögern mit schüchterner Stimme. „Aber ich habe niemanden. Keine Person, die mir helfen kann. Ich wurde allein gelassen.“

„Mein Vater wollte auch immer Pilot werden. Er hat mir früher abends Geschichten vorgelesen, bevor ich eingeschlafen bin.“

Er senkte den Blick.

„Aber er konnte seinen Traum nie verwirklichen. Und jetzt … will ich es für ihn tun. Ich will Pilot werden.“, sagte der Junge, während er sich die Tränen von der Wange abwusch.

Die Frau schwieg. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich schnell und sie sah aus, als würde sie nachdenken. Der Wind wurde stärker und die Vögel verstummten. Die Frau blickte ihn lange an, bevor sie leise fragte: „War dein Vater ein guter Mensch?“

David trat ein paar Schritte zurück, als ob er von der Frage weggehen wollte. Er blickte jetzt nicht mehr auf sie, sondern schaute in die Weite. David sprach schon fast flüsternd und antwortete: „Er war ein guter Mann und Vater, er hat uns immer gut behandelt und schaute immer gut zu uns. Er schrie uns nie an, und wir hatten ein gutes Leben, aber langsam verliere ich seine Stimme, sein Lachen, alles wird langsam verschwommen."

„Die Mauer hat vieles weggenommen, mehr als sie jemals zurückgeben kann.“, sagte die Frau. „Du musst die Vergangenheit in der Vergangenheit lassen und weiterleben. Dein Vater hätte es sicher nicht gewollt, dass du hier den Rest von deinem Leben einfach verschwendest. „Du redest davon, Pilot zu werden … aber du stehst nur hier. Meinst du, dein Vater würde dies so wollen?“

Der Junge sah aus, als würde er in einer anderen Welt sein. Er blickte wieder ins Leere und zeigte dabei gar keine Emotionen. Dann kam die Frau ihm ein paar Schritte näher, jedoch bemerkte er es gar nicht. Es schmerzte ihn wie eine grosse Wunde im Herzen, welche sich nicht selbst heilen wollte. Die Frau blieb stehen und der Wind beruhigte sich langsam.

Es war wieder still und dann sagte die Frau: „Ich muss gehen.“ Sie drehte sich dann um und ging langsamen Schritten zum Gebäude zurück.

David drehte sich dann um, schaute die Mauer noch an und dann ging er auch. Er ging in einem langsamen Tempo davon. Man hörte den Kies unter seinen Schuhen.

Danach war es still.